Geschichtenschublade

Heute habe ich eine Kurzgeschichte aus dem Leben einer Altenbetreuerin.
 Die Handlung mitsamt der Figuren ist  fiktiv, dennoch könnte sie wahr sein - Oftmals selbst ähnlich erlebt ... 
Sie ist in einem dezenten Wienerisch, da es ja um eine alte Wienerin geht :-) 



Denn der Herrgott weiß immer, warum ...

Die alte Dame saß in ihrem Sessel, eine Decke über die Beine gebreitet, und summte leise eine Melodie aus dem Radio mit.
»Wenn der Herrgott ned will, nutzt es gar nichts«, sie liebte die alten Wiener Lieder.
»Sei ned bös, ned nervös, denk, es war nix ...«, sang sie weiter. Viele Textstellen kannte sie noch, und sie sah gerne aus dem Fenster, während sie der Musik lauschte.
Der Himmel strahlte blau, ab und zu zogen weiße Wölkchen vorüber.
Entfernt drang ein Klopfen an ihr Ohr. Eine Tür öffnete sich, wurde leise geschlossen, dann trat eine Frau in ihr Gesichtsfeld, beugte sich zu ihr, berührte sie sachte am Arm und lächelte sie an.
Ein schönes Lächeln, das sich in den Augen der jungen Frau widerspiegelte und sich warm im Herzen der alten Dame ausbreitete.
»Guten Morgen, Frau Novak. Wie geht’s Ihnen?«
»Ah, die Frau Iris.« Die Decke rutschte auf den Boden, doch wurde sofort wieder von Frau Iris über die Beine gelegt. Die alte Dame zupfte unbeholfen daran herum.
»Schön, dass da sind. Na, wissens ja eh, wie’s mir geht. Schauens mich an. Beine dick wie des Michelin-Maxl und dann der Blutdruck. Ein Wunder, dass ich noch z’haus sein kann in dem Zustand. Denkens nur an die Frau Vaclavik. Die ist arm dran mit ihrer Arthrose - und ihr Herz mag eh auch nimmer. Und was ist passiert? Ins Heim haben’s es g’steckt, die Luder.«
Frau Iris legte ein fettiges Papiersäckchen auf den Küchentresen.
»Ich glaube, dass Frau Vaclavik sich am Sonnenhof wohlfühlt. Dort hat sie rund um die Uhr Betreuung, bekommt regelmäßige Mahlzeiten und Medikamente und sie kann spazieren gehen.«
»Aber geh, Frau Iris. Ein Heim ist doch nix.« Die alte Dame schnaubte unwillig.
»Alleine das Essen, grauslich, sag ich Ihnen. Kein g’scheites Schnitzel, und der Erdäpfelsalat schmeckt so fad, dass glaubt hat, die haben die Erdäpfel vergessen, sagt’s, die Vaclavik.«
Iris schmunzelte. Früher hatte die Dame Frau Vaclavik immer am Sonnenhof besucht. Das ging nicht mehr. Inzwischen wurde Frau Novak selbst rund um die Uhr betreut.
»Wie gehts denn der Frau Vaclavik so?«, fragte Iris trotzdem.
»Na, wie solls ihr schon gehen? Fünfundachtzig Jahre alt und im Heim. Ich sag Ihnen, ihr Leben ist vorbei. Die Verwandten kommens ned besuchen und dann muss’s auch um neun ins Bett. Ich mein, wo kommen wir da hin? Die kann sich ned mal Dancing Stars anschauen, weil dann kommts, die Oberschwester, und schimpft. Ist ja ärger als im Kindergarten. Wenn man alt wird, ist’s nimmer schön, sag ich Ihnen. Alle bestimmens, was‘d tun darfst. Ned einmal ein Glaserl Wein darf man genießen, dann kommens daher mit ihren Vorschriften und ihren Angstmachereien.« Sie schüttelte den Kopf.
»Heilfroh bin ich, dass meine Verwandten in Salzburg leben. So könnens mich nicht sekkieren. Wenns in Wien wären, hättens wohl auch die Idee g’habt, mich in ein Heim zu stecken. Nix gegen die Institutionen hier, aber dann bist geliefert. Nix hast mehr zu reden. Alle fahrens dir drüber, wennst was sagst.«
Es klopfte an die Tür. Iris öffnete und ließ eine kleine, pummelige Frau ins Zimmer.
»Guten Morgen, Tante Fanny.«
»Jessas, die Mizi ist da. Schön. Bist mit dem Zug kommen?« Frau Novak strahlte den Neuankömmling an.
»Wieso hast denn ned g’sagt, dass’d kommst?«
Die Besucherin blickte irritiert von Frau Iris zu ihrer Tante.
»Aber Tante Fanny, ich komm doch jeden zweiten Tag.«
Frau Novak kniff die Augen zusammen und musterte ihre Nichte.
»Das hast mir nicht g’sagt. Sowas hätte ich mir gemerkt.«
»Tantchen, du hast es nur wieder vergessen. Macht ja nichts. Weißt ja eh, was der Doktor Hoffmann immer sagt.«
Ein wenig verwirrt sah Fanny Novak ihre Nichte an.
»Doktor Hoffmann? Wer ist denn der?« Sie schnaubte unwillig. »Sicher ein Scharlatan, der glaubt, er kann dem Doktor Nigel seine Patienten wegnehmen.«
»Aber Fanny«, verständnislos musterte die Nichte die alte Frau. »Doktor Hoffmann ist doch dein Arzt. Den hast schon länger. Der Nigel ist in Pension gegangen.«
Entschlossen richtete sich die alte Dame auf.
»Nein, der Nigel ist ned in Pension. Was erzählst denn da für einen Blödsinn.« Sie schüttelte den Kopf. »Also wirklich, Mizi, du warst lange nimmer hier. Hast sicher vergessen, dass der Nigel noch mein Arzt ist.«
»Wir sprachen gerade über die Frau Vaclavik am Sonnenhof«, versuchte Iris dem Gespräch eine Wende zu geben.
Mizi hielt kurz inne, atmete ein. Ein entschlossener Zug erschien auf ihrem Gesicht.
»Das reicht. Jedes Mal kann ich mir den Blödsinn anhören.« Kopfschüttelnd ließ sie sich auf den zweiten Sessel gegenüber ihrer Tante nieder.
»Der Nigel ist in Pension und der Hoffmann ist seit über drei Jahren dein Arzt. Du hast es vergessen. Aber ich schreib‘s dir auf.« Als sie die Hand auf den Arm ihrer Tante legte, zuckte diese unmerklich zusammen.
»Du musst nix aufschreiben. Ich weiß, wer mein Arzt ist.« Dann wandte sie sich an Iris.
»Sagens ihr das bitte, Frau Iris.«
Iris nickte.
»Doktor Nigel ist der beste Arzt, den Sie kennen.« Sie lächelte der Frau aufmunternd zu. Fanny lächelte zufrieden zurück.
»Larifari!«, fuhr die Nichte verärgert fort. »Erzählens ihr doch die Wahrheit. Sie sind die Betreuerin. Sie sollten es besser wissen. Ich meine, irgendwann muss sie es ja akzeptieren.« Sie berührte erneut ihre Tante am Arm, doch diesmal reagierte die alte Frau nicht darauf.
»Ich meins ja nur gut. Du solltest endlich akzeptieren, dass du zuhause nicht bleiben hast können. Ich meine es ja nur gut mit dir, so verwirrt, wie du bist. Hier bist gut aufgehoben.«
Iris seufzte, wollte etwas sagen, doch ließ es bleiben.
Wuselig erhob sich die Nichte und drehte das Radio zurück.
»Du brauchst keine Angst haben, vorm Wiener Lied, Mizi«, meinte die alte Dame besänftigend.
»Angst? Wovon sprichst du um Gottes willen? Diese alten Lieder bringen dich nur auf dumme Gedanken. So kanns ned weitergehen. Immer dieses Herumgerede, die Musik, alles die reinste Farce. Es wird Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen.« Erneut setzte sie sich ihrer Tante gegenüber hin.
»Und die Vaclavik ist im Vorjahr gestorben.«
»Nein, das kann nicht sein.« Die Hände der alten Dame zitterten.
»Ich habs doch heute Nachmittag erst besucht.«
Ein tiefer Seufzer entrang sich Mizis Kehle.
»Das denkst du doch nur. Du kannst schon lange nicht mehr raus. Bist ja immer durcheinander und verirrst dich. Bist ja selbst am Sonnenhof.« Kopfschüttelnd wandte sie sich an die Betreuerin.
»Sagens ihr doch, was los ist! Sagen’s ihr endlich die Wahrheit.« Sie hob den Zeigefinger. »Es ist schlecht, wenn man Leute anlügt. Das hab ich schon als Kind gelernt.«
»Ich sage Frau Novak ständig die Wahrheit.« Betrübt betrachtete Iris die alte Dame, die zusammengesunken in ihrem Sessel saß. Klein, eingefallen, zerbrechlich. Ihr Blick verlor sich irgendwo im blau schimmernden Himmel jenseits des Heimes. Nichts war mehr von der Dame übrig, die zuvor ein Wiener Lied mitgesummt und von ihrer Freundin gesprochen hatte.
Iris streichelte sachte den Arm ihrer Patientin. Von oben nach unten, ganz behutsam.
»Nein, Frau Vaclavik ist nicht tot. Sie haben sie oft besucht.« Iris richtete sich auf und sah die Nichte an, die mit einem Mal ganz still war, nachdenklich.
»Die Wahrheit stellt für jeden von uns etwas anderes dar, Frau Maria. Das haben wir schon besprochen.«
Diese blickte auf ihre Hände, verschränkte die Finger ineinander, löste sie wieder, stand auf, sagte

»Ich geh lieber«
Iris musterte die Frau prüfend, die mit einem Mal wirkte, als würde die schwere Last, die sie zu tragen glaubte, noch ein wenig schwerer.
»Das Leben Ihrer Tante ist gut. Sie ist glücklich mit ihren Wiener Liedern und der Frau Vaclavik. So ist eben ihr Leben jetzt. Wenn Sie ein Teil davon sein wollen, können Sie nicht immer weglaufen.«
»Aber die Tante hat ja komplett dichtgemacht, schon wieder.«
Iris nickte.
»Ja, aber das wird schon. Setzen Sie sich hin. Sie freut sich, wenn Sie hier sind.«
»Na ich weiß nicht. Ich seh das anders als Sie.« Unschlüssig blieb die Nichte bei der Tür stehen.
»Frau Novak. Ihre Nichte möchte gerne ein bisschen bleiben. Ich mach uns nachher einen Kaffee«, wandte sich Iris an die alte Frau.
Unschlüssig, wie sie sich nun verhalten sollte, verharrte die Nichte mitten im Raum.
Iris richtete inzwischen Teller und Schüssel her.
»Heute gibt es Schnitzel frisch vom Schöberl.« Lächelnd nahm sie das panierte Fleisch und die Box mit Erdäpfelsalat aus dem fettigen Sackerl heraus.
»Und den Salat hat Frau Schöberl selbst gemacht, soll ich ausrichten.«
»Kein g’scheites Schnitzel habens im Heim, sagt die Vaclavik, und der Erdäpfelsalat ist so fad. Ganz anders als beim Schöberl.«
Iris drehte sich zu der Dame um, deren Augen munter funkelten.
»Ja, stimmt. Kein g’scheites Schnitzel am Sonnenhof.«
Frau Maria seufzte schwer. Ihr Unbehagen machte sich erneut bemerkbar.
»Schon wieder die Frau Vaclavik.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch besann sich eines Besseren. Zögerlich nahm sie auf den zweiten Sessel platz.
»Ja. Mizi, so ists mit diesen Heimen. Nix g’scheits zum Essen kriegst dort«, fuhr die alte Dame fort. »Eine Katastrophe, sag ich dir. Und dieser komische Vogel Hoffmann, oder wie der heißt, der kommt mir nicht ins Haus, sag ich nur. Weil die Vaclavik sagt immer, der ist ein Dodel mit all seinen Vorschriften.«
Iris lachte leise, ehe sie das Radio wieder lauter drehte.

»... Renn nur nicht gleich verzweifelt und kopflos herum,
denn der Herrgott weiß immer warum.«


  

Weihnachten wie damals ...

Ein Liedertext des großen Georg Danzer inspirierte mich zu dieser kleinen Weihnachtsgeschichte

Das kalte Licht flackerte und zauberte schattenhafte Figuren auf die kahlen, grauen Wände.

»Die Stromversorgung scheint wieder ein bisschen gestört, Lindy. Bitte schau einmal nach, ob die Hauptstromschalter abgedreht sind.«

Die brüchige Stimme klang müde, dennoch lag noch ein wenig Leben darin.

»Ja, Urgroßvater, ich schau schon. Mach dir keine Sorgen. Wir haben auch noch Wachslichter, falls unser Stromnetz wieder zusammenbricht«“ Eine schlanke Frau etwa Ende dreißig erhob sich und verließ den grauen Raum.

Der alte Mann nickte leicht.
»Achja, Wachslichter sagt ihr ja dazu. Wir nannten sowas damals Kerzen.« Seufzend lehnte er sich zurück, während längst vergessene Bilder von Tannenbäumen, Schneeflocken und liebevoll gestaltete Weihnachtsbäckereien vor seinem geistigen Auge entstanden. Es musste ungefähr um diese Zeit im Jahr herum gewesen sein.

»Ja, das war herrlich, Weihnachten mit der ganzen Familie.« Doch das war schon sehr sehr lange her ...
Nur schemenhafte Erinnerungen an diese schöne Zeit waren noch vorhanden. Damals, vor fast hundert Jahren, als er noch Weihnachten erleben durfte.

Ein leichtes Knarzen erklang in seiner Nähe als sich sein Urenkel Kenneth, ein kleiner stämmiger Junge, von seinem Platz am Tisch erhob. Zaghaft trat er an den alten Lehnstuhl, in dem die gebeugte Gestalt seines Urgroßvaters saß.
»Schau mal, ich hab ein Buch gefunden. Ich hab da was gelesen von Schnee und Weihnachten.« Schüchtern hielt er dem alten Mann ein zerfleddertes Buch hin.
»Und du hast gerade etwas von Weihnachten gesagt. Was ist das, Urliopa?«
Verwundert blinzelte der Angesprochene, als er dem Jungen das uralte Zeugnis einer fröhlicheren, längst vergangenen Zeit vorsichtig aus den Fingern nahm.

»Ein Buch. Sieh mal einer an« Ein sachtes Leuchten, einer weichen Kerzenflamme gleich, erschien in den von zahlreichen Falten umrahmten Augen.
»Na so was. Woher hat Mama denn das?« Andächtig fuhr er über das ehemals feste Cover, zog sanft die nur mehr matten, verblichenen Reste eingravierter, goldener Buchstaben nach, ehe er vorsichtig das Buch aufblätterte.
Die Seiten waren teilweise eingerissen und einige fehlten komplett. Leise Wehmut schlich sich in sein Herz. Es war schon viele Jahre her, das er zuletzt so etwas gesehen hatte.

»Ich habe das in der alten Kiste gefunden. Ähm, die ... na, du, äh, du weißt schon, die verbotene Kiste«, wisperte er. Der kleine Junge klang schuldbewusst, doch der alte Mann lächelte sachte.
Die verbotene Kiste also. Jaja ...

»Aber Mama hat das hier vorher da raus genommen. Schau mal.« Kenneth hielt dem alten Mann etwas silbrig Glitzerndes hin. Es war klein und hatte mehrere Zacken. Ein seltsames Ding, doch irgendwie gefiel es ihm.

»Das ist ein Weihnachtsstern, mein Junge. Wie die Sterne am Himmel, die in der Ferne leuchten.« Ein sehnsuchtsvolles Leuchten in den Augen des alten Mannes machte Kenneth neugierig.

»Was ist das, ein Stern, der in der Ferne leuchtet?« Aus großen Augen starrte der Junge den alten Mann an.

»Oh, das kennst du ja auch nicht.«
Urliopa streckte seine Hände nach dem schmiedeeisernen Ofen aus, der eine angenehme Wärme verströmte. Er fror immer so viel, obwohl die eigene Wärmeversorgung in dem ausgebauten Bunkerkomplex stets in Betrieb war. Aus diesem Grunde besaß er auch dieses alte Relikt einer längst vergangenen Zeit.

»Pass auf, mein Junge. Setz dich her, dann erzähle ich dir, was Weihnachten ist, und was Sterne sind. Und Schnee.«

»Von Schnee hab ich schon was gelesen«, meinte der Junge altklug, während er sich auf dem kleinen Hocker zu den Füßen des alten Mannes setzte.

»Ist er wirklich so kalt wie Eis, und stimmt das, das er weiß ist?«

»Ja, Kenneth, das stimmt. Aber höre zu.«

Der alte Mann lehnte sich zurück und versuchte sich zu erinnern.

»Damals konnte man noch raus und in der Natur herumlaufen, weißt du? Die Natur war sehr schön. Da gab es im Sommer Blumen und grüne Wiesen, Bäume in allen Schattierungen. Im Herbst waren alle Blätter bunt. Gelb, rot und später braun und im Winter, da gab es Schnee, der vom Himmel fiel, und Kälte ließ unsere Wangen erröten. Wir bauten Schneemänner, fuhren mit Schlitten. Und wenn der Himmel wolkenlos war, leuchteten am Abend, wenn die Sonne verschwand, unzählige Lichter am Himmel. Das waren die Sterne.«

Aufmerksam blickte der Junge ihn an. Er konnte es kaum erwarten, mehr zu hören, und der alte Mann fuhr, ganz in seiner Erinnerung versunken, fort.

»Ja, ich sehe es noch manchmal in meinen Träumen. Da gab es einen Weihnachtsbaum, mit Kerzen darauf, und der Schnee fiel kalt vom Himmel. Er war weiß, so wie meine Haare. Es gab Zimtsterne und Kekse, die schmeckten so gut und im ganzen Haus, du weißt schon, das mit den Fenstern, wo man raussehen konnte, und den hellerleuchteten Zimmern, da duftete es herrlich. Tausende Lichter erstrahlten, und es gab rundherum nur glückliche Gesichter.«
»Urliopa, was ist denn ein Weihnachtsbaum?«
Der kleine Junge hoffte, das der alte Mann noch mehr erzählen würde. Das klang alles so schön.

»Der Weihnachtsbaum war sowas wie das hier.« Der Alte wies auf eine Seite im Buch, wo ein Tannenwäldchen abgebildet war.
»Jedes Jahr wurde einer für uns gefällt und den schmückten wir mit Sternen und schimmernden Kugeln, Strohschmuck und Porzellanfiguren.«

Auf einmal fühlte sich der alte Mann beschwingt, wie schon lange nicht mehr, und in seiner Brust breitete sich ein warmes Gefühl aus.

»Damals gab es Frieden in den Herzen aller Menschen und die Familien kamen zusammen, um gemeinsam zu feiern. Weihnachen war das schönste Fest im Jahr. Wir Kinder naschten Kekse und warteten auf die Bescherung.« Er lächelte sachte bei dieser Erinnerung, und seine Augen glänzten. Niemals würde er diese glückliche Zeit vergessen.

»Was ist die Bescherung, Urliopa?«

»Ach ja, das kennst du ja auch nicht.« Andächtig fuhr der Alte mit seiner Erzählung fort.

»In Österreich nannte man es Bescherung, wenn das Christkind Geschenke brachte. Keiner von uns sah das himmlische Kind im goldschimmernden Kleid mit den langen hellen Haaren, wenn es kam. Doch wir alle mussten irgendwann an diesem Heiligen Abend, dem Weihnachtsabend, aus dem Zimmer gehen, wo der Baum aufgeschmückt bereitstand. Dann begann das Warten aufs Christkind. Und wenn das Glöckchen erklang, dann durften wir wieder zurück in den großen Wohnraum. Und siehe da, unter dem hell erleuchteten Baum lagen viele bunte Päckchen. Da war für jeden eines dabei. Und gesungen haben wir auch.« Auf einmal war dem alten Mann gar nicht mehr so kalt.

Kenneth legte eine kleine Hand auf den Arm seines Ururopas.
»Und was habt ihr gesungen?«

»Also gesungen haben wir ... warte mal ...« Er dachte nach, ehe er endlich mit brüchiger Stimme ein Lied anstimmte.


»Stille Nacht,
Heilige Nacht,

alles schläft,

einsam wacht,
nur das traute hochheilige Paar,
Holder Knabe im lockigen Haar,
schlaf in himmlischer Ruh‘,
schlaf in himmlischer Ruh ...«



Dem Jungen wurde eigenartig warm ums Herz, als er die feierlich klingenden Worte aus dem Munde seines Urliopas hörte und er fühlte sich auf einmal traurig und glücklich zugleich. Das war so schön, wieso sangen sie hier nicht noch viel mehr? Singen konnte man doch immer, oder nicht?

»Ja, das war das Lied, es erzählt vom Jesus Kind.« Betrübt hielt der Alte inne.

Kenneth spürte die Stimmung seines Ururopas.

»Wieso wird das nicht mehr gefeiert? Also das Weihnachten?«

Für einen Augenblick wurde es ganz ruhig im Raum. Das brennende Zeug im alten Ofen seines Urliopas knackte leise und Kenneth hörte die sachten Schritte seiner Mama, die soeben vom Stromaggregat zurückkehrte.

Leise seufzend fuhr der alte Mann fort.
»Da gab es einmal einen ganz großen Krieg. Und die Bombe ist hinuntergefallen, diese große Atombombe. Damals haben wir alle hier runter müssen. Und hier leben wir jetzt. Nichts mehr mit Schnee oder mit Zimtsternen. Nichts mit den glücklichen Gesichtern und den vielen Sternen und nichts mehr mit ... mit Weihnachten.«

Kenneth war nun auch traurig.

»Ich ... ich glaube, ich würde gerne Weihnachten feiern, so wie du damals ...«

Lindy war zu ihrem Uropa getreten und umarmte ihn. Kleine Tränen stahlen sich in ihre Augenwinkel.
Kenneth sah auf einmal so traurig aus, aber zuvor war er doch noch glücklich gewesen.

Ein unbekümmertes Kind ...
Leise begann sie das Lied weiterzusingen, das sie damals noch von ihrer Urgroßmutter gelernt hatte ...


»Stille Nacht,
Heilige Nacht ...

Hirten erst kundgemacht ...«




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