Donnerstag, 18. März 2021

Mistydew 4 - Arbeitsskript Prolog Leseprobe

 Prolog

843 n. Chr. in der Nähe der Siedlung Duibhlinn

Sämtliche Schleusen des Himmels schienen geöffnet. Harter, heftiger Regen prallte in schweren Tropfen auf das aufgeweichte Erdreich. Die Holzbauten der Siedlung schienen verlassen. 
Mit ihren eisblauen Augen betrachtete die hochaufgerichtete Frau auf dem Hügel das, bis auf wenige Bauten zerstörte Dorf zu ihren Füßen. Triumphierend sah sie um sich, in Erwartung einer Bewegung, eines Aufschreis der Wut und der Resignation, doch nichts passierte.
Irritiert sah sie sich um. Ihr kalter Blick wanderte unstet über die Reste der Siedlung, die im Dunst des unaufhörlichen Regens verschwammen. Etwas war nicht in Ordnung.
Ihr Hochgefühl schwand mit jeder weiteren Sekunde, die sie auf dem Hügel ausharrte. Das konnte nicht sein. ER musste hier sein, er konnte nicht weg. Dafür hatte sie gesorgt.
Ihre Augen starrten fieberhaft in die diffuse Wetterbrühe, doch nichts tat sich unterhalb des Signalhügels.
»Tyr! Ragnars Sohn - tritt aus deinem Versteck hervor, du hinterlistige Brut eines Seekriegers!« 
Es erfolgte keine Antwort. Nichts regte sich, keine Schatten, die durch die Ruinen schlichen, keine Tiere, die herrenlos durch das Dorf irrten, nicht mal schwache überlebende Menschlein wankten, bereits zum Tode verurteilt aus den Resten der Häuser. Einzig und allein das beständige Geräusch der herabplätschernden Tropfen durchzog die leblose Stille.
Unruhig regte sich die Person. Das konnte nicht sein! Aus dieser Falle konnte keiner entkommen! Sie hatte vorgesorgt, viele Monde gefastet und mächtige Zauber ausgesprochen. Zauber, die seit Menschengedenken existierten und sich in solch tiefer Dunkelheit verbargen, dass nur wenige Eingeweihte davon Kenntnis hatten.
Ein wohldurchdachter Plan, um die Kreaturen an diesem blutbesudelten Ort zu binden.
Bannkreise, Blut der Toten, Kräutermischungen und Räucherwerk. An wirklich alles hatte sie gedacht, um die letzten der Ursprünglichen zu bannen. Doch hier war niemand!
»Nein!«, schrie sie. »Daraus könnt auch ihr nicht entkommen, ihr Brut des Unheils!« Kleine Blitze stoben aus der Schwärze über ihr und verteilten sich zu winzigen elektromagischen Energien, die sie umtosten. Ein anmutend schauerlicher Anblick, wie sie dastand, umgeben von den Elementen der großen Mächte.
Sie fuhr herum, ihre Sinne aktivierend, tastend. 
Jemand war ganz in der Nähe.

»Lieder kennt ER, die kennt SIE nicht – 
Und keines Menschen Kind.«


Der Gesang umspielte sie, schien überall und nirgends zu sein. Hinter ihr, über ihr – IN ihr ...
Wutentbrannt schrie sie auf. 
»Nein! Das ist nicht möglich!«

»Hilfe verheißt IHM eins, 
denn helfen mag es in Streiten und Zwisten 
und in allen Sorgen.«


Wenngleich der Gesang auch wohltönend männlich schien, diente er ausschließlich dazu, sie zu entmachten. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie die unbändige Kraft darin.
Die Stimme war überall, nur nicht wo sie ihres Erachtens nach, sein sollte.
»Wage nicht, mich zu verspotten! Du kannst mir nicht entkommen!« Sie fuhr herum, drehte sich, stierte mit wildem Blick in den Waldgürtel hinter ihr, doch mehr als seine Schwingungen konnte sie nicht erfassen.

»Ein andres weiß ER, des alle bedürfen,
Die heilkundig sich wähnen.«

Zwischen den Birken trat eine Gestalt hervor.
Dunkel, hochgewachsen, die Haare zu Zöpfen geflochten. Lederne Kleidung, ein Schutzschild vor sich hertragend, mit Symbolen, die von großer Kraft zeugten. In der Mitte: Algiz - die Hörner des Elchs - ein Schutz gegen Böses und Feinde, links darunter Eihwaz - die Eibe. Furchteinflößend und mächtig. Geriet sie in die falschen Hände, könnte sie den Geist vergiften und Tod und Zerstörung bringen. Eine mächtige Waffe, die es zu beherrschen galt. Rechts erstrahlte ‚Tiwaz‘ die Rune des Kriegsgottes Tyr und in diesem Falle der Hinweis, wem das Schild gehörte. Tyr, Ragnars Sohn.
Stahlblaue Augen durchdrangen die Finsternis, blickten sich wachsam um, ehe sie mitleidlos an der großen Frau haften blieben, deren Konturen von einem schwachen weißblauen Schimmer umgeben waren.
Ohne näherzukommen, fuhr er mit leiser Stimme fort.

»Ein Drittes weiß ER, des ER bedarf
Seine Feinde zu fesseln.
Die Spitze stumpft ER 
dem Widersacher –
IHM verwunden nicht Waffen noch Listen.«


Seine Gestalt schien im Dunst des Waldes zu verschwimmen, wanderte, tauchte zwischen den Bäumen unter, ehe er unvermutet stehenblieb.
»Isnorns Tochter, wie schön, dich wiederzusehen.«
Diesmal klang die Stimme samtig. Die Gefahr darin war spürbar.
Die Frau erzitterte, mehr vor Wut als vor Furcht.
»Wie konntest du den Bannkreis durchbrechen?« Ihre scheinbare Verwirrung verwandelte ihre weißblaue Aura in schwarzes Lila. Mit einem Mal riss sie die Arme hoch. Fremdartige Worte, gleich schwerem, dunklen Met flossen aus ihrem Mund, stockten und versiegten im Klang des Regens.
»Bemühe dich nicht. Dein dunkler Zauber kann mich nicht treffen«, entgegnete er ruhig. »Muss ich wahrhaftig noch weitere fünfzehn Strophen des Runenlieds zitieren, bist du begreifst?«
»Das ist nicht das richtige Runenlied! Du hast es missbraucht. WIE IST DIR DAS GELUNGEN?«, fauchte sie wild.
Dem standhaften Mann sah man nicht an, was er dachte. Im Großen und Ganzen wirkte er unbeeindruckt.
»Tatsächlich hast du nicht genügend Acht gegeben.« Er machte eine weitausgreifende Handbewegung.
»Der Birkenwald, Rosmarin, ein paar Wacholderzweige.« 
»DU WAGST ES WAHRHAFT, MEINEN ZAUBER ZU STÖREN.« Sie konnte es nicht glauben. Kein seelenloses Geschöpf hatte die Macht, etwas derart Gewaltiges zu unterbinden. 
»DAS steht dir nicht zu! Das kannst du nicht!« Wie konnte das sein? Er war eine Kreatur der Finsternis. Seelenlose Wesen würden niemals eine derartige Magie entfalten können. Als eine solche, war es ihm nicht gegeben, sich den Kräften der Natur zu widersetzen und dennoch spürte sie ihre Machtlosigkeit.
»Und das hier, mit dem Blute meiner Mutter geweiht, deren Macht deiner ebenbürtig ist.« Der Mann hielt ein Amulett, das um seinen Hals hing, hoch, doch die Zeichen darauf waren aus der Entfernung nicht zu erkennen. Dennoch spürte die Frau die mächtige Energie, die davon ausging.
»Thuaidh, thoir, theas, siar - nicht dir allein ist es gegeben, die Elemente zu beschwören.«
Sie heulte auf. Nein, soweit durfte es nicht kommen! Nicht heute! Nicht nach all den unendlichen Mühen, die sie auf sich genommen hatte, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. 
Mit wildem Blick suchte sie in den Schatten nach Hilfe. Wo waren ihre Diener? Wieso eilte keiner herbei, um ihr beizustehen?
»Du erhoffst dir doch nicht etwa Hilfe von deinen acht Untergebenen, oder?«
Er hob seine Stimme an.

»Ihnen folgten mit mir
der Mägde drei,
Dazu fünf Diener
edlen Geschlechts ...

was sagt dir das, Tochter der mächtigen Isnorn?«

»Nein!«, schrie sie wutentbrannt auf.
Acht – die Zahl seiner Opfer betrug acht! Er hatte ihre Diener geopfert, ihr Blut für seines ...

Unbarmherzig fuhr der große Mann fort.
»Ja, ich sehe, du begreifst. Das Zeichen der Unendlichkeit. Oder, wenn du es in deiner Sprache willst: Dagaz – Der Tag. Das bedeutet: Ihre Kraft beginnt bei Sonnenuntergang. Die Vereinigung von Tag und Nacht.« 
Die Wirkung seiner Worte erschütterten Isnornsdottir bis ins Mark.
»Nein, das ist unmöglich!« Keine solche Kreatur besaß eine derartige Macht, und dennoch spürte sie diese. Wenn Dagaz falsch angewendet, oder von einem Unkundigen aktiviert wurde, der sie nicht kontrollieren konnte, würde sie eine ungeheuerliche Zerstörungskraft mit sich bringen. 
»Eine derartige Macht ist dir nicht gegeben, du Brut der Finsternis!« Konnte ihm nicht gegeben sein! Dennoch schien alles verloren. Das Böse befand sich nach wie vor inmitten der Menschen und würde seine Opfer holen. Tage, Nächte, Monde, Jahre. Finstere Zeiten brachen hiermit für die Menschheit an, wenn sie dies nicht verhinderte.
»NEIN!« Wie ein in die Enge getriebenes Raubtier setzte die Frau zum Sprung an. Ihre klauenartigen Finger von sich gestreckt, flog sie mit unheimlicher Geschwindigkeit auf die große Gestalt zu, die unbeirrt an derselben Stelle verharrte. 
»Ich werde dich vernichten!« Ehe sie ihn erreichen konnte, schmetterte sie gegen ein unsichtbares Hindernis und stürzte auf matschige Erde. Blut spritzte aus ihrer Nase und ein hässlicher Riss hatte sich auf ihrer Stirn ausgebreitet. Dunkel rann auch hier der Lebenssaft über das vor Hass und Schmerz verzerrte Gesicht.
Den Blick auf die schöne Frau gerichtet, fuhr der hochgewachsene Mann fort.
»Wohl nicht zu dieser Stunde. Kein besserer Ort, deine Macht in Ketten zu legen, als hier.« Er wandte sich um und verschwand langsamen Schrittes zwischen den weißen Stämmen der Birken.
»Tyr, Ragnars Sohn, ich werde dich finden und dich in dein unendliches Grab werfen«, schleuderte sie ihm hinterher, obgleich sie wusste, sie konnte ihn an diesem Ort nicht verfluchen. Er hatte ihre Kräfte für den Augenblick geraubt, und dafür gab es nur eine Erklärung. Einer ihrer vermeintlichen Verbündeten war ihr in den Rücken gefallen.
»Sei dir gewiss, du entkommst mir nicht. Egal wohin es dich verschlägt – und mögen tausende Monde vorüberziehen – ich werde deiner fündig werden und dich, wie deine Schwestern und Brüder für ewig aus dieser Welt verbannen!«
Ob der große Nordmann ihre Worte noch hörte, konnte sie nicht mehr feststellen, doch das Samenkorn ihrer Rache war ab diesem Moment gesät. Es würde mit jedem Jahr gedeihen, heranwachsen zu einem gewaltigen Baum der Vergeltung, und mit jedem Jahr stärker werden. 
Zuerst musste sie ihren Verräter finden, danach irgendwann ihn, Tyr, Ragnars Sohn. 
In Gedanken malte sie sich aus, welch Qualen er in seinem Gefängnis erleiden würde, denn Walhalla konnte es für ihn nicht geben. Dorthin zu den tapferen Kriegern durfte er niemals kommen, selbst Helheim wäre zu gnädig für ihn und seine verdammte Familie. Nein, er würde als Untoter in dem finsteren Grabhügel wandeln, schmoren, unter seinesgleichen – ohne Hoffnung auf Entkommen. 


Anmerkung:(Irisch) thuaidh, thoir, theas, siar - Norden, Osten, Süden, Westen - Texte aus dem 'Runenlied' dienten als Vorlage für den Dialog (aus der alten Edda)