Sonntag, 27. Dezember 2020

 NUR EIN BISSCHEN


Stundenlang saß er schon da, der alte Mann. 
In Gedanken versunken hockte er still an der antiken Theke und starrte zum Fenster hinaus. 
Sachte schwebten immer größer werdende Schneeflocken vom Himmel. 
Die Straße war schon bedeckt von der weißen Pracht und es würde vermutlich den ganzen Abend und die ganze Nacht so weitergehen. 
May, die Kellnerin, blickte sorgenvoll zur Tür. 
Es war Heiligabend und der alte Mann machte keinerlei Anstalten, zu gehen. 
Er war der einzige Gast zu dieser Stunde. Wenn er noch länger hier sitzen blieb, würde er wohl in Schwierigkeiten geraten. Sein Heimweg würde gefährlich werden, bei diesem Winterwetter. Man hatte Sturm vorhergesagt.

Dann kam ihr plötzlich der unwillkommene Gedanke, er könne womöglich komplett allein sein. Denn weswegen sollte er sonst an einem solchen Tag hier in ihrem kleinen Pub sitzen?
Dieser Gedanke stimmte sie traurig, wo sie doch selbst in einer großen Familie aufgewachsen war. 
Es war einfach nicht richtig. Zu Weihnachten sollte niemand alleine sein.
Ob er wohl hier Zuflucht gesucht hatte, um der Einsamkeit zu entgehen?
Dieser Gedanke würde erklären, weshalb er an Heiligabend alleine hier herumsaß.

Sie blickte auf die Uhr an der Wand. 
Gut eine Stunde noch, dann würde sie hier dicht machen und nachhause zu ihrer Familie gehen. 
Wohin ER wohl gehen würde? 
Im Moment jedenfalls, machte der Mann keine Anstalten aufbrechen zu wollen. 
Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
Seufzend trank er einen Schluck aus seiner Tasse, setzte sie ab und blickte auf den Zettel, den er vor sich liegen hatte. 
Er nahm ihn, wie schon oft an diesem Abend, in die Hand, warf einen kurzen Blick darauf, legte ihn wieder auf den Tresen und seufzte erneut. Bedrückt starrte er auf das Papier.

Was ihn wohl beschäftigte? Ob es sich bei diesem Zettel um einen Brief handelte?
Sie beobachtete ihn schon eine ganze Weile. Er hatte eine Füllfeder bei sich, mit der er immer wieder etwas auf diesen geheimnisvollen Zettel kritzelte.
Das kam ihr auch seltsam vor, schließlich wusste ein jeder, wie unpraktisch ein solches Ding war. 
Außerdem schrieb man sich heut zu Tage nicht mehr so viel Briefe. Die meisten hatten WhatsApp oder schickten Sms und Mails. 
May musste unwillkürlich darüber nachdenken, wann sie ihren letzten Brief bekommen hatte. 
Irgendwann in der Grundschulzeit? Oder womöglich sogar als sie noch ein kleines Kind gewesen war? 

Merkwürdig, sie konnte sich zwar an schönes Briefpapier und hübsche Briefmarken erinnern, aber sie wusste nicht mehr, wer ihr früher geschrieben hatte. Oder wem sie geschrieben hatte – die Zeiten hatten sich geändert. 

Dieses Jahr war überhaupt anders gewesen. Es war nicht gut für die Menschen gelaufen. Neue Krankheiten waren gekommen, daraus waren immense Ängste entstanden. Es war regelrecht eine Panik ausgebrochen, daraus resultierten neue Ängste. Ängste, die so tief gingen, dass manche blindlings um sich schlugen. 
Daraus entwickelte sich Zorn, und Zorn führte zu weiterem Zorn. Menschen, die sich zornig begegneten, konnten nicht mehr zurück. 
Diese Wut verschleierte den Blick in die Herzen anderer. Ja, die Welt war aus den Fugen geraten.

Dann gab es noch diesen unnötigen Clown, der gerade versuchte, eine ganze Welt für sich zu stehlen. 
Leider regierte er das Land, in dem May lebte, und hatte bereits soviel zerstört. 
Dann kamen noch die Politiker anderer Länder. 
Die meisten davon befanden sich im fortgeschrittenen Europa und hatten scheinbar beschlossen, die Weltherrschaft an sich zu reißen, indem sie diese Angst schürten und jede Menge Verordnungen erließen, die keinen Sinn ergaben. Daraus wuchs Unsicherheit bei der Bevölkerung, und daraus erwuchs selbstverständlich erhöhter Widerwille, sich zu unterwerfen. 

Und jetzt zu Weihnachten, wo man ein wenig gelassener durchs eh schon rasant dahinfliegende Leben schlendern, ein bisschen mehr auf sein Herz hören sollte, raste man durch die Gegend, vergaß auf Andere und nahm sich kaum Zeit für die ehemals wichtigen Dinge im Leben.

Zuversicht fehlte den meisten inzwischen, dadurch gab es auch kaum Hoffnung auf Besserung. 
Ja, der Glaube in das Gute war verlorengegangen. Stattdessen herrschten Hass und Angst in den Herzen vieler Menschen.

Seufzend begann May, den Geschirrspüler auszuräumen. 
Der Mann schien nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vorging.
Nachdenklich schaute er zum Fenster, ehe er erneut seinen Stift ergriff.
Er kritzelte etwas auf den Zettel, faltete ihn sorgfältig zusammen und dann, für May vollkommen überraschend, erhob er sich und zog seine dicke Jacke an.

»Frohe Weihnachten«, sagte er mit seiner tiefen Stimme.

May, noch immer überrumpelt, gelang es gerade, ihm einen hastig gestotterten Gruß hinterherzurufen, ehe er die Tür aufstieß und in die weißwirbelnde Winterwelt hinaustrat. 
Erst als die Tür hinter ihm zufiel, bemerkte May, dass der Mann seinen Zettel samt Füller am Tresen liegengelassen hatte.
Hastig klaubte sie die Sachen zusammen und eilte ihm nach.
Als sie die Tür schwungvoll aufstieß, stob ihr Schnee entgegen. 
Der kalte Wind fuhr durch ihre Kellnerinnenkleidung hindurch und ließ sie erzittern. 
Doch egal wohin sie sah, sie konnte keine Spur mehr von dem Mann entdecken.

»Aber ...«, zweifelnd betrachtete sie den Zettel in ihrer Hand. »Was mach ich nun damit?« 
Ratlos sah sie sich erneut um. 
Sie vermeinte, schemenhaft die Umrisse einer Gestalt wahrzunehmen, doch bevor sie sich sicher war, verschwammen die Konturen in den wirbelnden Schneemassen.

Vorsichtig faltete sie den Zettel auseinander und während die dichten Schneeflocken um sie herumtanzten, las sie das Geschriebene:

Ich wünsche mir Frieden auf Erden zu Weihnachten.
Eine Welt, wo kein einziges Kind Hunger leidet.
Einen Tag, wo Hoffnung und Glaube Angst und Hass überwinden,
Dazu nötig ist nicht viel,
Nur ein bisschen Liebe ...

Frohe Weihnachten wünscht S.

Die winzige Ahnung einer Erinnerung schwebte durch ihre Gedanken, doch ehe sie diese Erinnerung aufgreifen, sie durchleuchten konnte, hörte sie mit einem Mal den feinen Klang einer Glocke.

Verwirrt blickte sie ins verwaschene Himmelsgrau.
Nein, das konnte nicht von dort oben kommen. Der Himmel erschien ihr trüb und weiß von dem starken Schneefall, dennoch – es klang so nah!

Und dann, mit einem Mal hob sich der Schleier und all ihre Kindheitserinnerungen erschienen ihr klar und deutlich. Lächelnd blickte sie zum Himmel hoch. Ja, sie erinnerte sich!

Für einen winzigen Moment teilte sich das graue Weiß und ein zauberhafter Schein erleuchtete die winterliche Landschaft. 
Für den Bruchteil einer Sekunde vermeinte sie, die Umrisse eines Schlittens zu sehen, ehe sie geblendet von dem immer kräftiger werdenden Licht die Augen schloss. 

»Sehen heißt nicht glauben, May, glauben heißt sehen ...« Die tiefe Stimme schien von überallher zu kommen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war das Licht fort und der Himmel erschien wie zuvor in seinem verwaschenen Winterweiß.
Wie lange sie noch da stand, wusste sie nachher nicht mehr. 
Irgendwann faltete sie den Zettel sorgfältig zusammen und ging zurück in die warme Gaststube.

Ja, heute würde er viele Träume erfüllen, während er sich selbst wünschte, dass sich dieses Weihnachten auch seine Träume erfüllten!

May straffte die Schultern. Entschlossen schob sie den Wunschzettel in ihre Tasche.

Sie konnte wohl nicht all die Wunder bewirken, die nötig waren, um diese Wünsche alle zu erfüllen, doch sie konnte es zumindest versuchen.
Zuerst würde sie ihrer Familie heute diese Geschichte erzählen und hoffen, dass sie ihr glaubte. 
Danach würde sie ihre Lieben fest in die Arme nehmen und dankbar dafür sein, sie alle um sich zu haben.

Ja, es war nur ein bisschen Liebe nötig. Damit konnte sie getrost mal anfangen.

Mittwoch, 9. Dezember 2020




Vor dem Kamin

 Die Wärme lässt mich stille glauben,

Es ist noch Herbst in vollen Trauben.

Im Kamin da knistert das Feuer.


Dennoch sehe ich draußen das Eis,

und ignoriere still das Weiß

Denn draußen ist's nicht geheuer.


Flackernd und Knisternd

Plaudernd und flüsternd

Erzählt der Kamin mir vom Wald


Der Sturm tobt weiter,

doch fühl ich mich heiter,

Nur draußen ist's eisig und kalt.


Bezaubert lausche ich den Geschichten

Von duftenden Föhren, Tannen und Fichten.

Ich träume vom Lichterbaum.


Doch das Gefühl ist bald hinüber.

Laut fährt der Schneepflug nun vorüber

Zerstört den Wintertraum.