Dienstag, 17. November 2020

 Ich, die Frau im Pyjama

Irritiert blieb die Frau vor mir stehen. Die U-Bahn war um diese frühe Uhrzeit nicht besonders gut besucht, vermutlich hatte sie deswegen Zeit, mich anzustarren.

»Guten Morgen«, grüßte ich freundlich. Ich hatte gelernt, immer höflich zu sein.

Sie wirkte erstaunt über meinen Gruß.

»Äh, ja, guten Morgen.« Erneut blickte sie mich an. Diesmal von oben bis unten.

»Was ist los? Sitzt irgendwo eine Spinne oder so was auf mir?« Hastig sah ich an mich runter. Das wäre unangenehm. Ich mochte diese Viecher nicht besonders.

»Nein – neinnein, ich ähm – na ja, Sie – Sie tragen einen Pyjama.«

»Jep«, antwortete ich fröhlich. »Ich bin Schlafwandlerin. Immer wenn ich am wenigsten damit rechne, lande ich hier in der U-Bahn-Station.« 

»Oh, aha. Aber – ist das nicht gefährlich?« Sie klang ein wenig besorgt.

»Doch, manchmal schon. Einmal bin ich bei einem Fenster in eine fremde Wohnung reingeklettert. Keine Ahnung wieso. Dort wartete ein großer, gereizter Hund auf mich. Sie können sich vorstellen, wie sehr ich mich fürchtete.«

»Jessas, aber Mädchen. Sind Sie nicht in Behandlung, oder so?«

Ich winkte ab.

»Ach, die Behandlungen. Nein, die hab ich nicht angenommen. Ich finde, es ist noch immer schöner, zu träumen, als so traumlos zu schlafen, dass ich nichts mitkriege. Ich bin halt gegen diese Medikamente. Ist nicht so schlimm. Nur hier bei dieser U-Bahn, da lande ich öfter in letzter Zeit.« Schulterzuckend sah ich sie an.

»Das geht schon länger so. Ich ertappe mich regelmäßig dabei, wie ich im Pyjama hier aufwache. Tja. Wenigstens klettere ich nicht mehr durch Fenster in fremde Wohnungen.« 

Der Wind frischte auf, ein Rattern war zu hören. Es näherte sich eindeutig eine U-Bahn, doch die Frau reagierte nicht. Noch schien sie von meinem Wesen fasziniert, oder besser gesagt, von meiner Aufmachung.

»Okay, aber es ist doch kalt, um diese Jahreszeit. Ich meine, ich würde nicht freiwillig meine Wohnung verlassen, müsste ich nicht arbeiten. An einem solchen Novembertag wo der grindige Nebel schon in der Früh durch die Gassen wabert, wie grausliche Geister, nein, das ist so gar nicht meines. Und dann noch im Pyjama.« 

»Oh, naja, ich hab nichts gegen Nebel. Grausliche Geister mag ich aber auch nicht.« Vergnügt zeigte ich auf meine dicken Socken. »Sehen Sie, dick und warm.« Ich wackelte mit meinen rotbesockten Zehen.»Alles kein Problem. Wenn es mir zu kalt wird, gehe ich wieder nachhause.«

»Okay, ja, aber im Pyjama hier herumzusitzen ist auch irgendwie – äh ...« Ihr fehlten die Worte, mir nicht so.

»Unpassend? Seltsam?«

Sie nickte zögerlich.

»Hm, ja, schon irgendwie eigenartig.«

Ich blickte erneut an mir hinunter. 

»Ein wenig ungewöhnlich ist es schon. Aber wenn ich sehe, womit die Leute heute teilweise herumlaufen, naja, dann finde ich meinen Pyjama gar nicht mehr so schlimm.« Ich deutete auf meine Kleidung. »Sehen Sie, lauter kleine Schneemänner und Tannenbäume. Irgendwie fast der Jahreszeit entsprechend, nicht?«

Es schien, als hätte ich sie zum Denken angeregt, denn sie schwieg ein Weilchen. Die U-Bahn fuhr ein. Einige Leute stiegen aus. Die Türen schlossen sich – die Dame blieb. 

Fasziniert sah ich den wenigen Leuten hinterher. Sie achteten nicht im Geringsten auf ihre Umgebung, starrten auf ihr Mobiltelefon, in die Gratiszeitung. 

Ich machte eine ausgreifende Armbewegung.

»Sehen Sie, all diese Leute bemerken nicht mal, dass ich hier in einem Pyjama herumsitze. Kein einziger von ihnen hat mich gesehen. Das, meine liebe Frau, ist auch merkwürdig. Finden Sie nicht?«

Sie blickte hoch, die U-Bahn fuhr wieder an.

»Nun, die haben es vermutlich alle eilig, müssen in die Arbeit. Oh, jetzt hab ich die U-Bahn fahren lassen!« Sie schlug sich auf die Stirn. »Mann, jetzt komme ich sicher zu spät.« Seufzend ließ sie sich auf den Platz neben mir fallen. »Ach, was solls. Ich hab jede Menge Überstunden angehäuft. Da macht die wenige Zeit, die ich heute verliere, auch nichts mehr aus.«

Zufrieden lächelnd lehnte ich mich zurück.

»Sehen Sie, das ist ja das Problem. Die meisten Leute laufen einfach. Meistens jagen sie irgendwas hinterher. Etwas, wovon sie selbst nicht genau wissen, was es ist. Und Zeit, nun, Zeit ist eben nur dann wertvoll, wenn man sie wahrnimmt, so wie Sie im Augenblick.«

Sie runzelte die Stirn, ehe ein erkennendes Strahlen ihr Gesicht erhellte.

»Sie haben recht! Wissen Sie was. Kommen Sie mit. Wir gehen auf einen Kaffee. Gleich oben neben dem U-Bahnausgang gibts ein nettes Kaffeehaus. Haben Sie Lust? Ich lade Sie ein. Was sagen Sie dazu?«

Ich überlegte einen Augenblick. Sah an mir hinunter, betrachtete meine besockten Füße, die in weichen Lederschlapfen steckten.

»Hm, sind Sie sicher, dass ich Sie in diesem Aufzug in ein Kaffeehaus begleiten soll?« 

»Aber ja, Sie hatten vollkommen recht mit dem, was Sie zuvor gesagt haben. So wie die Menschen heute teilweise rumlaufen, ist ihr Outfit nicht allzu ungewöhnlich.« Sie lachte auf. »Da hab ich selbst schon Ärgeres gesehen.«

Lächelnd erhob ich mich. Sie war tatsächlich bereit, über ihren Schatten zu springen, also konnte ich das Angebot beruhigt annehmen. 

»Okay, dann gehen wir halt.« 

Sie nickte bestätigend.

»Ja, das ist eine gute Idee. Sie werden sonst noch krank. Hier ziehts überall. Kommen Sie.«

Ich lachte leise in mich hinein. Vor einer Erkältung fürchtete ich mich am wenigsten. Da gab es Schlimmeres.

Gemeinsam gingen wir zur Rolltreppe und fuhren hinauf – gingen beim Ausgang nach links und blickten auf mehrere Kerzen und Blumen, die auf dem Gehsteig neben dem U-Bahnabgang lagen.

Meine neue Bekanntschaft hielt inne und blickte nachdenklich auf die traurig-feierlich anmutende Ansammlung.

»Hm, das war eine Studentin, die in den U-Bahn-Schacht gestürzt ist. Keine Ahnung, wie es passieren konnte.«

Nachdenklich betrachtete ich das bereits vergilbte Foto einer jungen Frau.

»Vielleicht war sie ja Schlafwandlerin.« Ich fand das nicht so abwegig.

Seufzend wandte sich die Dame von dem Anblick ab.

»Keine Ahnung, es ist jedenfalls eine furchtbare Tragödie. Aber die Menschen nehmen Anteil an dem Leid, sind geschockt, wollen ein Zeichen setzen.«

Ich nickte nachdenklich.

»Ja, das wollen sie. Aber weshalb erst, wenn etwas passiert? Alle starren auf die Handys, rennen irgendwie blind durch die Gegend, ohne nach links und rechts zu blicken, und ... irgendjemand wird aus dem Leben gerissen, plötzlich, überraschend und dann auf einmal sind vollkommen Fremde betroffen. Fremde, die womöglich, wenn sie besser auf die Umgebung geachtet hätten, der Frau hätten helfen können.«

Meine neue Bekanntschaft nickte zögernd.

»Ja, da könnten Sie recht haben. Das ist furchtbar traurig, dass erst sowas passieren muss.«

Sie schüttelte sich, als wollte sie den Gedanken an das schlimme Unglück verscheuchen.

»Das ist der Grund, weswegen ich Sie heute entdeckt hab. Ich habe seit diesem schrecklichen Unfall beschlossen, nie wieder aufs Handy zu starren, wenn ich gehe, und besonders bei den Haltestellen der Öffis extra aufzupassen.«

Das war wirklich eine sehr vernünftige Entscheidung. Zufrieden lächelnd wies ich auf das Cafe.

»Sehen Sie, dadurch können wir beide jetzt gemeinsam auf einen Kaffee gehen. Also hat es sich gelohnt, aufzupassen. Gehen wir!«